Ein Kalligraph
Bringt die Wörter
Zum Tanzen
Von Hassan Massoudy
Die kufische Schrift, die Monumentalform der arabischen Schrift, ist streng, eckig und würdevoll. Auf Pergament mit durchscheinender Sepiatinte geschrieben, entfaltet sie eine mysteriöse Sinnlichkeit und verliert doch nichts von ihrem majestätischen Duktus.
Im Laufe der Jahrhunderte ist die arabisch‑islamische Schrift durch die Begegnungen mit den verschiedensten Kulturen noch schöner und noch reicher an subtilen Nuancen geworden. Obgleich die ursprünglichen, streng geometrischen Formen nicht gänzlich verschwanden, behauptete sich schließlich die Kurve, und die Buchstaben wurden runder, bauchiger und geschwungener. Einige Buchstaben gediehen so prächtig, dass sich die Wände, die sie zierten, in Gärten der Erbauung verwandelten, durch die das Auge zwischen Aufstrichen und Abstrichen auf verzweigten Pfaden schweifte. Andere Buchstaben wurden als Gegengewicht zu den leeren Zwischenräumen mit dekorativen Motiven geschmückt. Wo streng geometrische Formen vorherrschten, nahmen die warmen Blau und Türkistöne antiker Keramiken, deren Zauber uns noch heute in seinen Bann schlägt, den Buchstaben ihre allzu große Strenge. Das Streben nach Schönheit konzentrierte sich ganz auf den Buchstaben, da jede Form von figurativer Bildlichkeit verpönt war.
Auf Holz, Leder und Knochen, später auf Pergament, Steinen und glasierten Ziegeln arbeitend, bereicherten Kalligraphen ganze Generationen mit ihrer Kunst und gaben ihr Können mündlich an ihre Schüler weiter, die die alten Traditionen in Ehren hielten.
Wie steht es nun heute um die Kalligraphie? Ästhetische Werte unterliegen dem Wandel der Zeit. Ebenso wie sich das Verhältnis zu Raum und Zeit verändert hat ‑ man denke nur an die Abgründe, die sich zwischen den Städten und Karawanen der Antike und unserem Zeitalter der weltumspannenden Kommunikation und der Eroberung des Weltraums auftun ‑ hat sich auch das Wirkungsfeld für kreatives Schaffen erweitert. Zeichen und Bild sind eins geworden; der Umgang mit den sich anarchisch vermehrenden Zeichen und die Verwendung der neuen synthetischen Farben muß allerdings erst erlernt werden.
Wie kann sich der moderne Kalligraph unter diesen Bedingungen ausdrücken, ohne dabei das Licht der inneren Wahrheit und langer Erfahrung aus dem Auge zu verlieren, das ihn in seinem Schaffen leitet? Wie kann er seine Kunst erneuern, ohne dabei die ererbte Tradition zu verraten? Vor allem zwei Dinge sind hier von Bedeutung: der Inhalt der Worte, die er niederschreiben will, und das Handwerkszeug, das er dabei benutzt. Form und Inhalt sind nicht voneinander zu trennen.
Traditionell arbeiten die arabischen Kalligraphen mit einem Kalamos, einer spitz zugeschnittenen Schilfrohrfeder, die nicht dicker als ein Finger ist. Für große Kalligraphien ‑ zur Dekoration von Wänden beispielsweise ‑ müssen zunächst die Umrisse der Buchstaben vorgezeichnet und dann mit einem Pinsel farbig ausgemalt werden. Verwendet man breitere Schreibgeräte, entweder alleine oder zusammen mit dem Kalamos, so scheint es mitunter, als erwachten die traditionellen Zeichen zu ganz neuem Leben.
Ich selbst stelle mein Handwerkszeug aus Holz, Pappe und anderen Materialien her, benutze aber auch ganz gewöhnliche Pinsel. Die ursprüngliche Bedeutung der Buchstaben, die ich dann nachzeichne, bleibt zwar erhalten, aber ihre ästhetische Wirkung ist vollkommen anders. Ein chinesischer Kalligraph sagte einst: «Wenn die Idee erst auf der Pinselspitze ist, geht der Rest wie von selbst.»
Die Kalligraphie ist eine Kunstform, mit strengen Regeln. Selbst die Zeit, die erforderlich ist, um eine Linie auf ein leeres Blatt zu zeichnen, ist genau festgelegt. Traditionell verfügten die Kalligraphen weder über die Freiheit noch über die technischen Mittel, die es ihnen gestattet hätten, allzu gemächlich oder mit gar zu großer Hast zu Werke zu gehen. Ich schreibe heute allerdings zehnmal schneller als früher. Meine Hand fliegt förrnlich über die Seite, zeichnet die Umrisse des Wortes und gibt zugleich der Gesamtkomposition Gestalt. Doch nicht nur die Hand, der ganze Körper ist an dieser Handlung beteiligt, bei der sich die ganze Schatzkammer geduldig erworbener Fähigkeiten öffnet. Urn schnell schreiben zu können, muß der Kalligraph seine Bewegungen, aber auch seine Atmung vollständig beherrschen.
Die Farben werden unmittelbar vor Beginn der Arbeit angesetzt. Pigmente und Bindemittel werden zu einer Tinte von jeweils verschiedenem Flüssigkeitsgrad zusammengemischt. Der gleichmäßige, perfekte Fluß der Farbe sollte den Akt des Schreibens beflügeln. In der durchscheinenden Tinte spiegelt sich eine vollkommene, sinnliche Welt, die Ausgeglichenheit und Heiterkeit ausstrahlt. Um diesen Idealzustand zu erreichen, müssen jedoch zunächst die Substanzen, aus denen die Farbe hergestellt wird, gebändigt werden.
Harmonieren Form und Farbe vollkommen miteinander, so bereitet die Kalligraphie große Freude. Der Akt der Komposition ist geprägt durch die Gefühle während des Schreibens. Die Form, sei sie nun extravertiert oder introvertiert, ist stets an ein Erfahrungsmoment gebunden, aus dem sie ihre Intensität bezieht. Die Schönheit hat ‑ so glaube ich ‑ ihren Ursprung in dem Wechselspiel zwischen dem, was ich schreibe, und dem, was ich bin.
Im Inneren der Komposition sind die Vibrationen einer ganz eigenen Welt vernehmbar, und es wirkt ein Kräftefeld, das dem Rhythmus unterworfen ist, den ich der Bewegung der Buchstaben gebe. Manchmal führe ich die Federstriche steil nach oben, als wollten sie davonfliegen, dann wieder setze ich sie ganz behutsarn auf das Papier, so dass sie zum Inbegriff unendlicher Ruhe werden.
Wenn die Form steht, wenn die Striche sicher aus der Feder fließen, ist der Künstler zufrieden. Die Kalligraphie wird zur Körpersprache, die erklärt, was den Schreibenden ganz tief in seincm Innern bewegt ‑ Kindheitserinnerungen oder die Ereignisse des Tages. Diese Traumbilder werden in eine Form gegossen, sie öffnen sich wie die Knospen im Frühling. Es kommt mir das Bild vorn Saft in den Sinn, der von der Wurzel in jeden kleinen Zweig des Baumes hinaufsteigt. Oder die Vitalität einer Tanzgruppe in der Hand des Choreographen. Gar zu gerne wäre ich der Choreograph meiner Buchstaben und ließe sie auf der weißen Seite tanzen. Ich übersetze meine Gefühle in Gesten, und mit einem Male werden all meine Phantasien sichtbar. Aber wieviel Mühe und Geduld kostet das! Wieviel Konzentration braucht, wer solch flüchtige Impulse im Fluge einfangen will!
Bestimmte Buchstaben verlängere ich, andere drücke ich eng zusammen. Wenn meine Buchstaben sich in die Lüfte erheben, dann fliege auch ich mit ihnen. Wenn sie wieder zur Erde zurückkehren, dann kehre auch ich mit zurück. Manchmal hilft der Zufall mir, tiefer in meine Intuitionen einzudringen. In der Kalligraphie kommt die Schönheit nicht zwangsläufig triumphierend oder überschwänglich daher. Sie kann auch das Ergebnis eines inneren Konflikts oder Dramas sein. Um das rechte Gleichgewicht wiederherzustellen, muß der Kalligraph mit einem Höchstmaß an Präzision arbeiten und sicher sein. Gelingt ihm das, so wird die Schönheit der Form zur Hilfe in schweren Zciten. In kreativen Augenblicken wird alles erhellt, wird alles zur Kalligraphie: die Natur, die Menschheit, selbst die industrialisierte Welt.
Die Form bezieht ihre Energie aus dem Raum, der ihr zugestanden wird. Irn Arabischen werden die Wörter horizontal geschrieben ‑ ich gebe ihnen Vertikalität, und als Höhepunkt des Ganzen ziehe ich die Buchstaben eng zusammen, um den monumentalen Charakter der Gesamtkomposition zu betonen.
Die Kalligraphen waren stets bestrebt, nur das Sublime zu enthüllen, und selbst die kleinste Spur inneren Konflikts wurde aus ihrer Arbeit verbannt. Heute kann ich ausdrücken, was immer ich rnöchte, jedoch mit einer Freiheit, die das Ergebnis der Reife ist, mit durch ein Quentchen Weisheit gezügeltem Verlangen. Die Lehrjahre sind lang, und das Schreiben birgt ungeahnte Gefahren in sich. Am Ende aber belohnt die Kalligraphie den geduldigen und hingebungsvollen Schreiber stets.
Der Künstier, dem die Kalligraphie ihre geheimen, Erfahrungen offenbart, durchlebt einen Rausch, der dem des Tänzers gleicht, der sich bis zur völligen Erschöpfung im Kreise dreht. Alle Stürme, die das Herz bewegen, verwandeln sich in einfache, klare Gesten. In viel stärkerem Maße als die Sprache, in der die Buchstaben geschrieben sind, ähnelt die Arbeit des Kalligraphen jenen von der Natur geschaffenen Statuen, die in den Wüstenhimmel ragen und das Auge zur Unendlichkeit führen.
UNESCO KURIER 1990 |